Macht Google dumm? Sollen Kinder Smartphones haben? NEW-D spricht mit Lernforscher Dr. Lennart Schalk über Lernen, Bildung und Digitalisierung.
Herr Dr. Schalk, viel ist geschrieben worden darüber, dass Google uns dumm macht, dass Smartphones uns unkonzentrierter werden lassen. Wie ist Ihre Sicht als Lernforscher auf das Thema Digitalisierung?
Solche pauschalen Aussagen sind Unsinn – es ist weder Google noch das Smartphone an sich, was uns dumm oder schlau oder unkonzentriert macht, sondern die Art und Weise, wie wir diese Angebote nutzen. Denn zunächst einmal muss man festhalten, dass Digitalisierung und Vernetzung enorme Entwicklungsmöglichkeiten bereitstellen – unabhängig von Zeit und Ort stehen riesige Mengen an Daten und Informationen für jedwede Problemlösung zur Verfügung. So betrachtet ist also die Digitalisierung erst einmal ein Werkzeug, dass man (z.B. per Smartphone) mit sich herumträgt.
Die Analogie zu einem Werkzeug ist erhellend. Mit einem kleinen Hammer kann man kleine Nägel gut einschlagen, mit einer Zange die Nägel wieder herausziehen. Ein Werkzeug ist also angepasst an Aufgaben, Kontexte, Situationen. Derzeit wirkt es häufig so, als seien Google und Smartphones pauschalisierend entweder Allheilmittel oder des Teufels – viel interessanter ist es aber zu fragen, wann, wie, wo diese Werkzeuge helfen können, wann nicht.
Von „dumm machen“ würde man in der Lehr-Lernforschung sprechen, wenn digitale Medien das individuelle Intelligenzpotential verringerten und den Erwerb und die Speicherung von Wissen hemmten; von „unkonzentriert werden“ dann, wenn ablenkende Reize, die eine eigentlich verfolgte Tätigkeit stören, nicht ignoriert werden könnten. Wenn das Smartphone dazu führt, dass man sich ständig in Multitasking-Situationen befindet, dann führt dies zu Effizienzeinbußen – denn konzentriert eine Aufgabe bearbeiten ist immer effektiver, als gleichzeitig zwei Aufgaben zu bearbeiten.
Wenn das Googeln nach Informationen das Lernen von Zusammenhängen, Prinzipien, Mechanismen unterdrückt, weil man meint, dieser Lernaufwand lohne sich nicht, dann macht es uns dümmer – denn Google beantwortet Fragen. Man muss wissen, wie man diese stellt, aber auch, wie man mit den erhaltenen Antworten umgeht, wie sie zu anderen Antworten stehen, was es bedeutet, wenn sich Antworten widersprechen. Um auf die Frage zurückzukommen, Digitalisierung ist aus Sicht der Lehr- und Lernforschung und der Psychologie nicht entweder gut oder schlecht, sondern der Einsatz kann mehr oder weniger sinnvoll sein.
Viele Familien diskutieren lange darüber, ab welchem Alter Kinder Zugang zum Internet haben sollten oder ein eigenes Smartphone bekommen. Was würden Sie Eltern empfehlen?
Internet und Smartphones sind Teil der Welt, in der Kinder heute aufwachsen. Kinder sind von klein auf ständig damit konfrontiert – die Eltern, ältere Geschwister, Leute auf der Straße schauen und wischen andauernd über ein Gerät, sprechen, brüllen, lachen oder weinen in es hinein; Computer stehen überall herum. In der Geschichte der Menschheit gab es und wird es immer Entwicklungen geben, die den Kontext, in dem Kinder aufwachsen, stark verändern. Heutzutage wird der Umgang mit Internet und Smartphone zu einer Entwicklungsaufgabe.
Kinder aber auch noch Jugendliche haben schlechtere Selbstregulationsfähigkeiten als Erwachsene, daher müssen auch die Erziehungsberechtigten Verantwortung für deren Lebensgestaltung inklusive der Mediennutzung übernehmen. Noch viel stärker als das Fernsehen bieten Internet und Smartphone ständig wechselnde Unterhaltung an – etwas, das anstrengend oder ein bisschen langweilig wirkt, kann einfach weggewischt oder weggeklickt werden.
Dabei ist ein Smartphone oder ein Tablet eine zweidimensionale Repräsentation, die nur einen ganz kleinen Teil der Erfahrungen bereitstellen kann, die die reale Umwelt liefert. Die Zeit, die für den Umgang mit diesen Technologien aufgewendet wird, steht für andere Sachen nicht mehr zur Verfügung. Dessen müssen sich Eltern bewusst sein. Dann gilt es Folgendes zu überlegen: Wofür braucht das Kind überhaupt Zugang zum Internet , warum soll es mit einem Smartphone unterwegs sein, welche Regeln für die Nutzung kann man einführen, wenn die Kinder ein Smartphone bekommen?
Kommen wir zum Thema Erinnerungen. Verlernen wir das Behalten von Informationen durch Suchmaschinen oder beflügelt uns das „zweite Gehirn“ in unserer Produktivität?
Hier können wir zu der Werkzeug-Analogie zurückgehen. Suchmaschinen können uns eine riesige Menge an Informationen sofort bereitstellen, und dies auf eine Art und Weise, die sehr viel komfortabler und direkter ist als bspw. das ausgiebige Recherchieren in einer Bibliothek. Auswendiglernen von Fakten wird somit vermutlich tatsächlich zunehmend weniger relevant, denn wir haben ein Werkzeug, was dieses fast optimal für uns leistet.
Internet und Suchmaschinen sind aber kein zweites Gehirn – sie bilden eine Datenbank, die uns unterstützen kann. Aber die Datenbank kann uns eben nur dann unterstützen, wenn wir wissen, was wir eigentlich von ihr wollen. Wir müssen das Wissen, das es uns bereitstellt, einschätzen können. Wir müssen wissen, was es bedeutet, dass man auf eine Suchanfrage nicht nur einen Eintrag bekommt, sondern zig verschiedene (vielleicht hat man Glück und sie stimmen überein, aber was wenn nicht…).
Gleichzeitig beschränken viele Suchmaschinen die angezeigten Ergebnisse – sie hängen bspw. von der Historie ab, mit der man sich durch ebendieses System navigiert hat. Dies birgt die Gefahr, dass man beginnt, wie das System zu denken, statt mithilfe des Systems sein Denken zu verbessern. Anders ausgedrückt, man muss Kompetenzen entwickeln, wie man überhaupt zu relevanten Informationen kommt, wie man multiple (möglicherweise einander widersprechende) Informationen zusammenbringt, wie man die Glaubwürdigkeit von Quellen bewertet – wie man kritisch denkend mit dem umgeht, über das man stolpert, das einem angepriesen wird.
Rein durch das Lesen von Wissen, Informationen und Fakten wird man kaum zum Experten in einem Gebiet – man muss sich fragend and interessiert annähern, Informationen individuell umstrukturieren, neue Information mit bestehendem Wissen zusammenbringen. Man hat ein Gehirn, dieses ist zu Erstaunlichem fähig und kann, wenn es gute Kenntnisse über ein Werkzeug hat, dieses hervorragend oder vielleicht sogar kreativ nutzen.
Schulen sind heute mit Smartboards ausgestattet und bekommen WLAN . Was sagt die Wissenschaft zum Einsatz digitaler Lernmittel?
Digitale Lehr- und Lernmittel können sehr hilfreich sein. Digitale Medien erlauben es, neue Darstellungen von Problemen und Fragestellungen zu präsentieren. Beispielsweise können dynamische Simulationen komplexe naturwissenschaftliche Vorgänge besser nachvollziehbar machen. Oder die auf einem Whiteboard zusammengetragenen Informationen können einfach in der Klasse verteilt werden. Aber der Einsatz von verschiedenen Medien im Unterricht erfordert auch ein genaues Abwägen, wie, wann und in welcher Kombination Informationen präsentiert werden.
Lernende mit Informationen zu überfluten oder durch gut gemeinte, aber für das eigentliche Lernziel irrelevante Informationen abzulenken, geht schneller als viele denken. Für den lernwirksamen Einsatz verschiedener Medien brauchen die Lehrerinnen und Lehrer fundiertes Wissen über die Informationsverarbeitungs- und Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler.
Auch reicht es nicht, Klassenzimmer und Schulen einfach nur mit der gerade neu verfügbaren Technologie – seien es Smartboards oder WLAN – auszustatten. Lehrende müssen darin unterstützt werden, wie sie diese Technologien in ihrem Unterricht didaktisch sinnvoll und lernwirksam nutzen können, wie Technologien die Unterrichtsvorbereitung erleichtern können.
Ist die Digitalisierung im Bildungsbereich nicht auch in der Lage, den Zugang zu Bildung zu verbessern? Man sagt ja immer, dass in Deutschland die soziale Herkunft die Bildungschancen bestimmt. Mit Onlinevorlesungen oder Online-Universitäten bekommen quasi alle Zugang. Verbessert das nicht auch die Bildungsgerechtigkeit? Oder lernt es sich in der Gruppe mit anderen immer noch am besten?
An den meisten Universitäten geht man derzeit wohl davon aus, dass Onlinevorlesungen ergänzend angeboten und genutzt werden können, aber dass sie die Präsenzuni nicht ersetzen können. Es geht eben nicht nur um das einfache Einpauken von Fakten und Informationen, sondern um den kritischen Umgang mit Informationen – dafür ist das Lernen in der Gruppe, Diskutieren und Argumentieren immer noch wichtig und wird es wohl auch bleiben.
Prinzipiell können durch Online-Vorlesungen oder Online-Universitäten natürlich mehr Menschen erreicht werden, als es die Präsenzuni kann. Hier stellt sich aber die Frage, ob tatsächlich die Gruppen von Menschen, die ohnehin schon eher bildungsfern sind, diesen Weg überhaupt wählen (und überhaupt wissen, dass sie diesen Weg wählen können) oder ob nicht doch eben nur bildungsnähere Gruppen diese Angebote zusätzlich nutzen. Das Anbieten von Onlinevorlesungen ist häufig auch einfach ein Geschäftsmodell, mit dem mehr Studierende gewonnen werden können – die Kosten für die Online-Studierenden sind niedriger als wenn sie sich direkt bei der Universität einschreiben würden, aber die oft große Masse an Teilnehmenden spült doch Geld in die Kassen von Universitäten.
Zudem ist meines Wissens nach sehr unklar, was mit den doch sehr persönlichen Daten geschieht, die bei Onlinelehrveranstaltungen gespeichert werden. Die Anbieter erhalten präzise Informationen darüber, wann bspw. Hausaufgaben gemacht werden, wie lange sich Lernende mit den Inhalten beschäftigen und wie diese Lernprozesse mit dem Lernerfolg, der abschließenden Note etc. zusammenhängen.
Allgemein muss man als Lernforscher zugeben, dass es derzeit schwierig ist, die Auswirkungen, Vor- und Nachteile von Online-Vorlesungen und Online-Universitäten im Speziellen, aber auch zur Digitalisierung im Allgemeinen genau abzuschätzen – es gibt einfach (noch) zu wenige Daten.