Morgens halb neun an der Alster. Kein Durchkommen. Der Stresspegel steigt. Von rechts kommen sie. Ein endloser Strom. Sie sind schnell und es gibt kein Durchkommen. Fahrräder liegen im Trend.

Immer mehr Großstädte bauen ihre Programme zur Förderung des Radfahrens aus. London verzeichnet 43% mehr Fahrradfahrer in der City seit Einführung der Maut. 73,5 Millionen Fahrräder gibt es in Deutschland laut ZIV. 1,73 Millionen Fahrräder wurden 2017 in Deutschland hergestellt. Der Umsatz bei Fahrrädern & E-Bikes 2017: 2,69 Milliarden Euro.

Je populärer das Radfahren, desto wichtiger die Auswahl von Marke, Accessoires und technischen Details. Retro, Street, Sport, Komfort, Elektro – unerschöpflich die Vielfalt. Doch auch im Fahrradmarkt findet eine tiefgreifende Transformation statt. Der Online-Kanal wird größer, Pureplayer wie fahrrad.de sind groß geworden. Ketten wie BOC finden sich auf der grünen Wiese oder in der Stadt. Dennoch halten sich viel kleine und unabhängige Läden.

Der Fahrradhändler um die Ecke bietet schnelle Hilfe bei kleinen oder großen Problemen am Rad. 68% der Käufer entscheiden sich im Fachhandel oder dem Fachmarkt für ein neues Fahrrad, 19% tun dies online und 13% greifen im Bau- oder Supermarkt zu (ZIV). Um die 5.000 Händler soll es geben, wobei die kleineren langsam verdrängt werden. Diesen Trend zu stoppen, ist die Mission des Fahrradherstellers Hartje.

Seit über 50 Jahren ist Hartje aus Hoya in Niedersachen in der Fahrradproduktion und im Großhandel tätig, das gesamte Unternehmen feiert bald sein 125-jähriges Jubiläum. 800 Mitarbeiter plus Saisonkräfte stellen an verschiedenen Standorten sowohl komplette Räder als auch Ersatzteile her bzw. lagern und vertreiben diese. Nicht nur für Fahrräder, sondern auch für Autos und Motorräder hat HARTJE Ersatzteile, Zubehör und Werkzeuge im Programm.

Charakteristisch für den Fahrradmarkt ist die enge Beziehung zwischen Händlern und Herstellern. Hartje hat sich gefragt, wie man den lokalen Einzelhandel unterstützen und digitale Services auch kleinen Händlern anbieten kann. Der Schlüssel dazu: Das Distributionsnetz.

Schon in den 70ern fuhr der hauseigene Schnelldienst in täglichen regionalen Auslieferungsfahrten Fahrräder und Teile in die Läden. Heute geht das innerhalb von 24 Stunden im gesamten Bundesgebiet. Diese Logistik war notwendig, um die Idee für die Plattform „Mein Fahrradhändler“ www.mein-fahrradhaendler.de umzusetzen, bei der sich Endkunden online Fahrräder bestellen können und es anschließend im Fahrradladen um die Ecke abholen. Noch ist die Plattform im Softlaunch, im Frühjahr zum Saisonstart startet die Bewerbung.

Ähnlich wie beim E-Reader Tolino profitieren beide Partner. Für NEW-D habe ich mit Christian Hepp, Leiter Retail Marketing & Kundenbetreuung von Harte gesprochen, um mehr über die digitale Transformation in einem mittelständischen Unternehmen zu erfahren. 

Herr Hepp, wie kommen Sie eigentlich morgens zur Arbeit?

Auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen. Ich bin sehr viel an unterschiedlichen Standorten unserer Firma unterwegs und je nach Ort per Bahn, zu Fuß oder per Rad. Auch das Auto spielt eine erhebliche Rolle. Je nach Strecke unterscheidet sich das.

Digitalisierung im Mittelstand, wie kann man sich das vorstellen? Geht es vor allem um E-Commerce oder ist das gesamte Unternehmen betroffen?

Gestartet sind wir vor einigen Jahren mit einem internen Zirkel, der sich das Thema Kundenbindung auf die Fahne geschrieben hat. Daraus entwickelte sich die Idee, dem Fahrradhandel Themen vorzudenken und benutzungsfertig aufzulegen. Die erste Ausprägung ist dann der Onlineshop des Omnichannel Prinzips geworden. Wie bei allen neuen Themen ist es sehr hilfreich, etwas Vorzeigbares als Vorbild zu haben, um die immer komplexeren Anforderungen im Handel angehen zu können.

Wir haben E-Commerce B2C als Leuchtturm gewählt, um daraus die Lerneffekte und Folgethemen abzuleiten. Erfolgreiche Digitalisierung funktioniert unserer Erfahrung nach nur, wenn sich das Unternehmen Schritt für Schritt auf diesen Weg begibt. Es gibt Vorbehalte und Ängste gegenüber der Digitalisierung, diese aufzunehmen und die Ängste zu nehmen ist eine der zentralen Aufgaben. Das ist nicht immer einfach, aber anders nicht möglich und auch nicht sinnvoll.

Wie erleben Sie die Kultur der Veränderung – wo treffen Sie auf Widerstände, wo fällt es leichter?

Hartje arbeitet erfolgreich, hat den letzten Jahren eine interessante Erfolgsgeschichte geschrieben und hat, salopp gesagt, es eigentlich nicht nötig, etwas zu verändern. Das Geschäftsmodell würde sich durchaus noch eine Weile halten. So sehen es viele Kollegen, es ist nicht einfach zu erläutern, warum man sich ändern muss, um für die mittlere und ferne Zukunft gut aufgestellt zu sein. Oftmals ist das mit dem sehr menschlichen Gefühl der Entwertung gepaart. Der Eindruck, dass jetzt alles neu werden muss, geht oft mit dem Eindruck einher, dass das eine Aussage über die bisherige Arbeit ist. „Es war aber auch nicht alles schlecht, was wir gemacht haben“ habe ich schon häufig gehört.

Es ist elementar, hier Verständnis und Anerkennung für die bisherige Arbeit auszusprechen. Und: Veränderung ist ja auch nur möglich, wenn ein solides Fundament vorhanden ist. Das zu vermitteln ist ein andauernder Prozess, der Empathie und Geduld voraussetzt. Es ist wie mit einem Stein, der ins Wasser fällt. Anfangs ist es ein kleiner Kreis, der die Welle bildet, dieser wird über das „infizieren“ weiterer Kollegen mit den Ideen immer größer. Es ist eine große Freude zu sehen, wie sich immer mehr Kollegen an der Gestaltung der Zukunft beteiligen wollen.

Kommen wir zum Thema Fahrrad. Die Elektrifizierung greift hier um sich, auf der anderen Seite sind Retro-Modelle stark gefragt im urbanen Raum. Was sehen Sie als Trends?

Pedelecs für den urbanen Bereich sind tatsächlich noch nicht flächendeckend angekommen. Die Kunden haben noch nicht die Lösung für sich und ihre Etagenwohnung gefunden, hier aber wird die innerstädtische Mobilität der Zukunft entschieden. Kann man dem Kunden plausibel versichern, dass sein 3000 Euro Fahrrad sicher ist und nicht innerhalb der ersten 24h unfreiwillig einen neuen Besitzer findet? Hier gibt es mit Kompakträdern und Falträdern erste Lösungen, welche das Lagern in den Wohnräumen möglich machen. Ein hochwertiges Rad stellt man nicht einfach in den Innenhof oder den Bretterverschlag im Fahrradkeller.

In Kombination mit der Dienstradregel ist hier ein erhebliches Potential vorhanden, Kunden in Städten von der ewigen Parkplatzsuche zu erlösen. Einige Modelle dieser Fahrradtypen ermöglichen auch einen Lastentransport, der für den Wocheneinkauf komplett ausreicht. Das Thema Transport per Fahrrad beschleunigt sich massiv. Kinder in die Kita, Großeinkäufe und die Fahrt zum nächsten See an einem heißen Tag lassen sich ohne Stau und angespannte Parksituation erledigen.

Der Autoindustrie fällt die Umstellung auf Elektromobilität nicht gerade leicht. Wie war das bei Ihnen? Am Anfang verspottete man Elektrofahrräder ja auch noch gerne mal als „Oma-Räder“.

Wir sind ein „early Adopter“ der Elektroräder. Auch in der Zeit mit Frontmotoren und riesigen Akkukästen, als das Thema noch komplett uninteressant für die breite Masse war. Wir haben damals einen Service für das Thema E-Rad aufgebaut und immer an das Thema geglaubt. Was jetzt daraus geworden ist, ist beeindruckend. Das Oma- Thema hört man zwar auch heute noch, aber es wird immer weniger. Der Boom bei den E-MTB´s hat hier eine massiv verbesserte Akzeptanz auch bei Semi-sportlichen Menschen und sogar sportlichen Bikern gebracht.

Wie viele Menschen die Freude an der Bewegung durch das E-Rad wieder erlangt haben, ist kaum zu begreifen. Menschen, die mit dem Thema Fahrrad schon „abgeschlossen“ hatten, sind heute durch die Trittunterstützung in der Lage, lange Touren zu Orten zu fahren die jahrelang nur per Auto erreicht wurden. Vor allem im Bekanntenkreis wird einem dieses Feedback schon fast „aufgedrängt“ von begeisterten Fahrern. Im Endeffekt liefern wir das, was der Kunde will. Der wird im Bereich E-Rad übrigens rapide jünger.

Der Fahrradmarkt ist kein einfaches Transformationsfeld. Viele kleine Händler, wenige große Ketten und ein paar Pure-Online-Player. Was bieten Sie den einzelnen Akteuren?

Als Handelsbetrieb sind wir natürlich offen für alle Betriebe, die unsere Waren kaufen wollen. Unabhängig von Größe oder Ausrichtung. Wir bieten den größten Mehrwert für den lokalen Fachhandel. Unser Sortiment, Lieferdienst mit eigenen Fahrzeugen und Lieferfähigkeit bieten dem lokalen Handel zu einem gewissen Teil die Möglichkeit, das Lagerrisiko auf uns abzuwälzen. Die Ware kommt zuverlässig zum angegebenen Zeitpunkt. Wir bemerken aber auch beim lokalen Fachhandel einen deutlichen Konzentrationsprozess.

Händler, die eine gute Beratung und einen guten Service bieten, haben ein deutliches Wachstum zu verzeichnen. Spezialisierung auf Sortimentsbereiche und Service helfen, dem Kunden als Spezialist und Fachmann entgegenzutreten. Das wird honoriert. Wir geben Unterstützung in Form von Workshops, Schulungen und einer Vertriebs – und Servicemannschaft. Dazu kommt jetzt neu die Möglichkeit der Onlinepräsentation, einer Warenwirtschaft für den Fachhandel und Konzepten im Bereich Ladenbau und Werkstatt. Alles Themen, die wir umsetzen können und damit den Handel entlasten.

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf Ihre unterschiedlichen Fahrradmarken? Besteht ein Informationsbedürfnis Ihrer Kunden oder reicht ein „hab ich schon mal gehört“ im Markt oder Fachhandel aus, um sich für eine Hartje-Marke zu entscheiden?

Auf dem Weg, den wir vom klassischen Großhandel zum Markenvertrieb plus Großhandel gehen, ist das ein sehr interessanter Punkt. Bisher haben wir und unsere Händler Produkte oftmals verkauft, weil wir schlicht der einzige waren, der durchgängig liefern konnte. Dazu kommt jetzt, dass wir immer mehr in Produkte und deren Vermarktung investieren. So bewegt sich das Thema von „Hauptsache mit Bosch Antrieb“ hin zu „Victoria hat tolle Fahrräder“.

Wir bewegen uns also immer weiter auf dem Pfad, dem Kunden die Marke, die Idee dahinter und die Partner, die diese Produkte vertreiben, nahe zu bringen. Die gezielten Fragen nach unseren Marken im Handel werden häufiger, da müssen wir dem Kunden dann auch vorab gute Informationen zur Marke und den Fahrrädern liefern. Die Kunden kommen heute immer häufiger informiert ins Geschäft, darauf zielt auch Mein-Fahrradhaendler.de ab. Den Kunden da abzuholen, wo er sich informiert. Marke, Produkt, Handelspartner und Emotionen zusammen zu bringen und den Kunden damit zu begeistern.

Was ist die Idee hinter mein-fahrradhaendler.de?

Wir wollen Endkunden mit einer hochwertigen Onlineansprache ins lokale Fachgeschäft leiten. Kundenbindung. In jeglicher Hinsicht. Händler durch Mehrwerte und Vorteile mit uns und unseren Marken zu verbinden. Endkunden zu begeistern und ihnen zu vermitteln, dass es besonders viel Spaß macht, wenn man sich einen lokalen Fachhandelspartner gesucht hat, der das Rad nach dem Kauf in Schuss hält. Ziel ist es nicht, der Onlineplayer Nr. 1 zu werden, Ziel ist es, Kunden, die gerne im Handel kaufen, dorthin zu leiten und ihnen vorab so viele Informationen zur Verfügung zu stellen, dass sie den Weg auf sich nehmen.

Welche Rolle spielt Ihr Distributionsnetz und wie schnell ist es?

Bis heute zaubert mir der Gedanke an unsere eigene Logistik schon ein Lächeln ins Gesicht. Für unsere Konzepte zur Digitalisierung ist unser Netzwerk mit den Standorten und der Logistik eine super Grundlage. Wir können (Stand 2018) von Montag bis Freitag unsere Händler bis ins tiefste Süddeutschland innerhalb von 24Stunden beliefern. Noch nicht überall, aber mit klarer Tendenz zu mehr Anbindung an immer mehr Händler. Unsere lokalen Einheiten helfen uns hier als Umschlagsplatz weiter, hier bieten wir einen lokalen und dezentralen Ansprechpartner, der die „Sprache“ der Region spricht. Nicht nur schnell, sondern auch sympathisch.

Sie sind aktuell in der Vorbereitung. Wann geht es richtig los?

Aktuell sind wir in der Umsetzung unseres Go Live. Technisch sind wir fertig, nun sind wir dabei, alle Händler mit der Warenkorbfunktion zu verknüpfen und damit arbeitsfähig auf dem Portal zu machen. Dann werden wir die Seite online bewerben und Schritt für Schritt mehr Werbeaufwand betreiben, um zum Saisonstart nächstes Jahr richtig durchstarten zu können.

Herr Hepp, ich danke Ihnen für das Gespräch!

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Fotos: Hartje