Es gibt wohl kaum eine spannendere Zeit, Arbeitsministerin zu sein als heute. Während die Vorboten fundamentaler technologiegetriebener Veränderungen schon heute die Wirtschaft verändern, stammt ein großer Teil der Regulierung von Arbeit aus dem Industriezeitalter. Teile der neuen kreativen Industrien und ihrer Angestellten sind bereits von den „alten“ Sozialpartnern wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden abgekoppelt.
Die Debatte um „Arbeit 4.0“ zeigt die Verunsicherung darüber, wie das Morgen aussehen wird, aber auch den Willen zur Mitgestaltung einer modernen, fairen Arbeitswelt. Phänomene wie Crowdworking, Coworking Spaces oder mobiles Arbeiten sind für eine kreative Avantgarde schon selbstverständlich. Trotz der Möglichkeit ständiger Erreichbarkeit wünschen sich Gen-Y und heutige Arbeitnehmer eine ausgewogene Work-Life-Balance und eigenverantwortlich gestaltbare Spielräume zum Ausprobieren neuer Dinge.
Über 73% der Erwerbstätigen in Deutschland sind mittlerweile im Dienstleistungsbereich tätig, mehr als 1 Million Angestellte gibt es in der IKT-Branche. Automatisierung durch Algorithmen und Roboter wird in den nächsten Jahren Millionen Jobs verändern und auch überflüssig machen. Das alles klingt nach einer Mammutaufgabe.
Unter dem Titel „#arbeitenviernull – Arbeiten weiter denken“ läuft seit April 2015 ein Dialogprozess des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, den Andrea Nahles nach ihrer Amtsübernahme angestoßen hat. Erstes Ergebnis aus diesem Prozess ist ein „Grünbuch“ (hier runterladen oder bestellen) welches die Veränderung der Arbeitswelt in einen Gesamtkontext stellt und vor allem Fragen an diese neue Welt formuliert.
Frau Nahles, Sie sagen selbst, dass Sie in einem Dilemma stecken. Während die eine Hälfte der Arbeitnehmer Sicherheit, klare Regeln und Arbeitszeitbestimmungen einfordert, empfindet die andere Hälfte das als Behinderung. Wie wollen Sie beiden Seiten gerecht werden?
Diese 50 zu 50-Teilung ist ein bisschen zu grob, aber richtig ist: Wir sind im Übergang, in dem die Menschen, die Beschäftigten die Entwicklung und die Veränderungen unterschiedlich erleben. Wir müssen also nach vorn schauen, den Wandel mitgestalten, Regeln für die neu entstehende Wirtschafts- und Arbeitswelt anpassen oder schaffen, ohne dabei alle und alles über einen Kamm zu scheren. Verantwortliche Politik muss die Zukunft im Blick haben: Durch die Digitalisierung werden sich konkrete Arbeitstätigkeiten und die Anforderungen in der Arbeitswelt langfristig für praktisch alle Beschäftigten verändern. Deshalb müssen wir ihre Qualifikationen weiterentwickeln. Aufgaben, die mit Arbeit 4.0 entstehen, sind anspruchsvoller. Da muss Bildung und Weiterbildung mithalten. Eine weitere zentrale Herausforderung wird sein, zu neuen Kompromissen zwischen den Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen und den Bedürfnissen der Beschäftigten zu kommen, inbesondere bei der Arbeitzeitgestaltung. Wir brauchen einen neuen sozialen Kompromiss – wir brauchen sowohl Schutzrechte, die für alle Arbeitnehmer gelten und auch dort wirken, wo der Tarif nicht mehr hinkommt, als auch Anreize für ausgehandelte Flexibilität auf der Basis von tariflichen und betrieblichen Vereinbarungen.
Ihr Dialogprozess „Arbeitenviernull“ läuft seit über einem Jahr. Wie sieht Ihre bisherige Bilanz aus? Was wird im Anschluss passieren, wenn Sie im November das „Weissbuch“ veröffentlichen, wie wird daraus reale Politik?
Wir haben mit dem Grünbuch zum Auftakt des Beteiligungs- und Dialogprozesses die großen Herausforderungen und Handlungsfelder des Wandels und der zukünftigen Arbeitswelt skizziert und zur Diskussion gestellt. Dabei standen und stehen drei zentrale Entwicklungen im Vordergrund: Digitalisierung, Demografie und Diversität der Arbeitnehmerschaft und Erwerbsbiographien. Wenn wir über Arbeiten 4.0 sprechen, dann nehmen wir diese drei Entwicklungen in ihren Wechselwirkungen in den Blick. Anders gesagt: Wir verstehen die Digitalisierung als einen der wichtigsten Treiber für den Wandel der Arbeitswelt, wir wollen die Debatte über die Zukunft der Arbeit aber auch nicht auf die technologische Seite verengen. Das Weißbuch Arbeiten 4.0 wird konkrete Handlungsoptionen aufzeigen, es wird ein Raster skizzieren und den Rahmen abstecken für die Beschäftigungs-, die Arbeitsmarkt- und damit einen Gutteil der Gesellschaftpolitik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Einerseits ist klar: In der parlamentarischen Demokratie stehen politische Weichenstellungen, Konzepte und Handlungsschwerpunkte regelmäßig zur Wahl, zur Debatte und damit potentiell zur Disposition. Andererseits muss und wird man das Rad nicht jedesmal neu erfinden. Das Weißbuch versteht sich als Markstein für einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass der digitale Wandel in der Arbeitswelt eine politische Rahmung, passende Regeln, die Veränderung von regulativen Leitplanken braucht. Es wird Vorschläge und Empfehlungen zu solchen Regeln und Verfahren enthalten – und konkret Bereiche benennen, in denen sie nötig sind.
In Ihrer Rede auf der re:publica sprechen sie davon, „Experimentierräume“ einzurichten, in denen bestimmte Regeln für eine Zeit außer Kraft gesetzt werden. Können Sie zwei Beispiele nennen, wie solche Räume aussehen und bei welchen Regeln Sie sich Vereinfachungen vorstellen können?
Wir brauchen eine Phase des gemeinsamen Ausprobierens und Lernens von und in Unternehmen. Aber dabei sollen auch Arbeitnehmervertretungen, die Wissenschaft und die Politik dabei sein – und sei es nur begleitend. Es geht darum, wirtschaftliche mit technologischen und sozialen Innovationen zu verbinden, auch neu ins Verhältnis zu setzen. Konkret denke ich beispielsweise an die Arbeitszeitpolitik. Nicht immer entspricht das Arbeitszeitrecht den spezifischen Bedürfnissen bestimmter Betriebe oder Beschäftigter. Hier könnten Spielräume erweitert werden, sofern sich die Sozialpartner darüber verständigen und die Betriebe mitmachen. Aber sowohl für die Experimentierräume als auch für den Wandel insgesamt gilt: Wo mehr Flexibilität verlangt wird, müssen auch neue Sicherheiten her. Es kann und wird nicht so laufen, dass einige eine hohe Digitalisierungsdividende erzielen und die Risiken einseitig auf Teile der Arbeitnehmerschaft verlagert werden.
In der Schweiz gibt es eine Volksabstimmung über das Grundeinkommen, in Finnland werden große Pilotprojekte dazu im nächsten Jahr gestartet. Wenn heute eine Supermarktkette von einem auf den anderen Tag nur noch Selbstkassier-Kassen anbietet und die KassiererInnen überflüssig macht – was tun Sie kurzfristig, um auch geringer Qualifizierte digital fit zu machen, was halten Sie langfristig vom Grundeinkommen?
Der Wandel vollzieht sich, er ist wirkmächtig, er ist grundlegend, aber er kommt auch nicht in allen Bereichen über Nacht. Bei Selbstkassier-Kassen z. B. muss ja auch der Konsument mitspielen. Es gibt einen Trend in die Richtung, ja, aber auch noch viele, die ihre Waren an den regulären Kassen bezahlen – das kann man in Baumärkten und Selbstbedienungs-Einrichtungshäusern gut beobachten. Es wird also nicht radikal „von einem Tag auf den anderen“ sein. Wenn der Roboter dem Beschäftigten körperlich ungesunde Tätigkeiten abnimmt, kann Automatisierung eine Chance sein. Denn die Beschäftigten übernehmen oftmals neue, qualifiziertere Tätigkeiten. Diese Entwicklung beobachten wir bereits länger. Die großen Herausforderungen liegen daher in der Weiterbildung, in der Qualifikation, im lebenslangen Lernen. Da werden wir noch hohe mentale Hürden zu nehmen haben. Umso wichtiger ist es, dies von Seiten des Staates, der Sozialpartner und gesamtgesellschaftlich massiv zu unterstützen und zu fördern – auch materiell. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre demgegenüber die einfache Lösung, die einer Kapitulation vor den Herausforderungen gleichkäme und zudem extrem teuer wäre. Es steht auch im klaren Widerspruch zu unserem solidarischen Sozialstaat, in dem Bürgerinnen und Bürger füreinander einstehen. Hinter unserem Modell der sozialen Sicherung steht der Gedanke, dass diejenigen, die Hilfe brauchen, sie bekommen, und diejenigen, die mit ihren Steuern und Sozialabgaben dafür bezahlen, sicher sein können, dass jeder und jede nach seinen Möglichkeiten bemüht ist, für sich selbst zu sorgen. Diese Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit. Nein, die Herausforderungen des digitalen Wandels für Arbeit und Beschäftigung verlangen mehr aktiven Gestaltungswillen von allen Beteiligten.