„Daten. Das Öl des 21. Jahrhunderts“ schallte es von Vortragsbühnen. Was macht Big Data eigentlich heute? German Angst und Big Data – geht das gut? Klaas Wilhelm Bollhoefer steht auf der Bühne des BITKOM Big Data Summits. Er sagt, er glaube an den Menschen. Der wird durch Daten nicht überflüssig, sondern wichtiger. Zumindest beim Modellieren von dem Gut, das womöglich in der Lage ist Wirtschaftszweige aufblühen oder auch niedergehen zu lassen: Algorithmen. Anfangen soll man nun, selber machen. Das ist Punk für den 43-jährigen, der bereits in mehreren Digitalfirmen gearbeitet hat. Und nun den Titel trägt, der den Wandel von analogen Geschäftsmodellen zu digitalen besser nicht treffen kann: Chief Data Scientist. Der Datendenker des Big Data- und Cloud-Dienstleisters The unbelievable Machine Company (*um) spricht mit NEW-D über die Zukunft eines ganz speziellen Branchenzweigs.

Herr Bollhoefer, wovon träumen Sie eigentlich nachts?

Schöne Einstiegsfrage. Doppeldeutig, irritierend und grad als spontane, irgendwie auch schützende und „aus dem Bauch raus geschleuderte“ Reaktion auf einen Affront, erstaunlich passend.Was wir aktuell als Digitale Transformation, Digitalen Wandel oder Digitalisierung bezeichnen, lässt uns sowohl träumen als auch oft mit eigenartigem Bauchgefühl verstört und orientierungslos zurück. In dieser Dichotomie gilt es aber, selbstbewusst zu agieren statt zu kopieren, zu reagieren statt abzuwarten. Überall entstehen neue Realitäten – digitale Realitäten, Datenrealitäten. Nicht nur im virtuellen Raum des E-Commerce, des Internets per se oder in Zukunft in VR („virtual realities“) und AR („augmented realities“). Sondern auch vermehrt in der Fabrikation, der Logistik, im Transportwesen oder im klassischen stationären Handel. Industrie 4.0, Internet of Things, autonomes Fahren, der 360-Grad-Kunde, Chatbots und Virtual Private Assistants wie Siri sind Bestandteil, Ausgangs- und Kristallisationspunkt dieser Realitäten, an denen es gilt, künftig aktiv zu partizipieren. Als Individuum, als Organisation, als Gesellschaft.

Was wäre Ihr Wunsch für diese Zukunft?

Dass wir aus dieser Desorientierung und Lähmung treten und wieder aktiv zum Gestalter und Entwickler werden. Dass wir wieder in den Lead unserer eigenen Digitalen Entwicklung gehen – bewusst nicht „Transformation“ genannt. Das benötigt neues Wissen, überdachte Denk- und Handlungsmuster, Mut, Risikobereitschaft und eine Haltung. Beispielsweise die Attitüde der Punk-Bewegung: DIY – do it yourself! Einfach mal machen, einfach starten. Nicht darauf warten, dass andere den Weg bereiten. Nicht nach Best Practices suchen, diese kopieren und hoffen, dass alles passt und gut wird. Es gibt keine Best Practices da draußen, nur Practices. Practices, von denen wir lernen und uns inspirieren lassen können. Nicht mehr, nicht weniger. Alles Weitere müssen wir schon selbst hinkriegen. Und ja, gerne auch träumen. Kreativ sein, verrückt sein, ausprobieren, lernen, Fehlschläge zelebrieren. We need more crazyness.

Vor drei Jahren war Big Data das große Thema in den Medien. Heute ist es gefühlt ruhiger worden. Hat das Thema den Hype-Zustand verlassen und ist produktiv geworden?

Eindeutig ja. Big Data ist da, in vielen Teilen verstanden und produktiv. Gleichzeitig hat sich auf dem Weg der Professionalisierung und Etablierung in den letzten fünf Jahren zum einen der Fokus verändert, zum anderen das Themenfeld Big Data immer weiter ausdifferenziert und spezialisiert. Big Data als Begriff für neue Technologien, mit denen alle Arten, Volumen und Geschwindigkeiten von Daten verarbeitet, analysiert und perspektivisch genutzt werden können, ist eigentlich ein alter Hut und medial kaum noch hip. Beobachten wir aber Themen wie Künstliche Intelligenz, Chatbots, Home Automation, Robotik inklusive Autos oder Cognitive Computing, etwa im Gesundheitssektor, befinden wir uns ganz eindeutig immer noch auf dem Peak des Hype Cycles. Für mich gehören all diese Themen und Facetten zu Big Data dazu. Sie sind Teil, Handwerkszeug und Material der Datenrealitäten, die entstehen, die wir entwickeln und die das Potenzial haben, Grundsätzliches zu verändern. Nehmen wir ein Beispiel: Skype und Microsoft Research sind in der Lage, Gespräche in Echtzeit zu dolmetschen, aktuell zwischen der englischen und spanischen Sprache. Spricht ein Teilnehmer englisch und der andere spanisch, können sie den jeweils anderen in ihrer Sprache hören. Das ist wie der Babelfisch aus „Per Anhalter durch die Galaxis“, der Knopf im Ohr, der es uns in naher Zukunft vielleicht ermöglicht, sich mit jedem auf der Welt zu unterhalten. Erstellt wurde dieses Produkt, wie fast alle Systeme im Bereich Künstlicher Intelligenz, die uns gerade staunen machen, mit Hilfe enormer Datenmengen – ergo Big Data. Daten, enorme Rechenpower und mehrheitlich etablierte und, wenn wir ehrlich sind, teils 50 oder 60 Jahre alte Algorithmen, sind der Treibstoff der zuletzt gezündeten Stufe der Digitalisierung.

Mit welchen Fragestellungen kommen die Kunden momentan zu Ihnen?

Das kann man weder konkret noch pauschal beantworten. Big Data-Projekte werden in jeder Branche und in jedem Unternehmensbereich realisiert, an einer Stelle früher, an anderer später. In der Regel sind es auch nicht die hoch innovativen, bahnbrechenden und visionären Projektideen und Fragen, mit denen Kunden auf uns zukommen. Es sind zu Beginn die naheliegenden Themen, bei denen es um Optimierung, Konsolidierung, Konkretisierung oder Visualisierung geht. Die Daten unserer Kunden sind ein Rohstoff, in dem ungemein viel Wissen und Potenzial vorhanden ist. Dieses wird aber nur selten urbar gemacht. Somit geht es in einem ersten Schritt oft darum, eine Basis zu schaffen für die nachhaltige Entwicklung eines Unternehmens in Richtung Data Enterprise. Hier legen wir großen Wert darauf, dass dies nicht nur technisch verstanden wird, sondern sich auch organisatorisch, kulturell und in den Köpfen abspielt. Wir nennen das „Data Thinking“. Gleichzeitig gilt es aber auch, den Blickwinkel unserer Kunden zu öffnen und neu zu justieren, beispielweise in Ideation Workshops, bei Hackathons und Meetups oder Cross-Industry Journeys. Es ist sinnvoll und wichtig, immer wieder neue Impulse zu setzen und für die Entwicklung konkreter Projektvorhaben zu nutzen.

In welchen Unternehmensbereichen waren Big Data-Projekte besonders erfolgreich?

Erfolg ist immer relativ und sehr unternehmensspezifisch. Im Idealfall ist er definier- und messbar und somit ab Tag 1 für jedes Vorhaben und Projekt im Kontext von Daten, Algorithmen & Co. die relevante Größe. Bis heute sprechen viele Marktteilnehmer vom „Proof of Concept“ (PoC) und empfehlen Kunden, einfach mal ein paar dieser Prototypen als initiale Projekte zu realisieren, um erste Erfahrungen zu machen, zu lernen und mit geringem Investment – schlank und agil – in Big Data einzusteigen. So sinnvoll das klingt, so falsch ist es. Auch wir haben unzählige PoCs für unsere Kunden in den letzten Jahren realisiert und dabei in das gleiche Horn getutet. Mit dem Ergebnis, dass viele PoCs zwar für sich erfolgreich waren, die meisten aber nie in den Regelbetrieb gingen oder als Teil eines Produkts oder Prozesses dem Kunden einen definierten und messbaren Mehrwert brachten. Daher ist es für uns und unsere Kunden heute wesentlich, dass wir bereits zu Beginn gemeinsam die Erfolgs- und Messkriterien definieren und zugleich schon den gedanklichen Bogen bis zum Einsatz der „Data Solution“ in der Produktion spannen. Inklusive technischer und organisatorischer Möglich- und Unmöglichkeiten. Weit denken, schlank und agil starten, jederzeit reflektieren. Auch das ist Data Thinking.161204_klaas_bollhoefer_buehne

Algorithmen polarisieren. Gerade wenn es um Selektion geht – ob bei Nachrichten oder der Prognose von Rückfallwahrscheinlichkeiten von Inhaftierten. Wie gehen die von Ihnen betreuten Unternehmen mit der Ethik von Algorithmen um?

*um ist Premium-Dienstleister für Cloud & Big Data in Europa. Sicherheit und Datenschutz werden bei uns GROSS geschrieben und sind, so platt das klingt, Teil unserer Firmen-DNA. Wir sind Experten darin, für unsere Kunden Sicherheits- und Datenschutzkonzepte zu entwickeln und sie kontinuierlich bezüglich aller assoziierten Aspekte zu beraten und zu begleiten. Datenethik ist vielleicht das wichtigste Thema der nächsten Jahre im Kontext der digitalen Entwicklung. Aktuell steht die gesellschaftliche Diskussion hier noch am Anfang, der Themenkomplex wird leider oft auf Datenschutz- und Sicherheitsaspekte reduziert. Auf meiner persönlichen Agenda steht Datenethik aber sehr weit oben. Algorithmen polarisieren nicht nur, sie werden mehr und mehr Entscheidungen fällen. In vielen Bereichen der Welt, der Unternehmen, des Alltags. Teils kollaborativ, entscheidungsstützend. Teils autonom, aber auch vollautomatisiert. Fast nie regelbasiert. Lassen Sie sich das bitte auf der Zunge zergehen: Die Algorithmen, von denen wir heute in der Mehrzahl sprechen, wenn es um Machine Learning, Deep Neural Nets oder allgemein Künstliche Intelligenz geht, produzieren ihre Ergebnisse nicht mehr regelbasiert, nicht zwingend nachvollziehbar, nicht als klares 0 oder 1. Die Ergebnisse sind Wahrscheinlichkeiten, beispielsweise 78,3% für das eine Ergebnis („0“) und komplementär für 21,7% das andere („1“). Das bedarf einer Interpretation und einer Entscheidungslogik, passiert aber häufig in einer Black Box. Es gab mal ein schönes Beispiel, wo ein amerikanisches Institut nachvollziehen wollte, was in den Sekunden und Millisekunden vor einer massiven Börsenirritation passiert war, die schlussendlich zum Aussetzen der Börsentätigkeit für einige Stunden führte. In dem Mikro-Zeitraum, in dem die Trading-Algorithmen aus unserer Sicht „verrückt“ spielten bzw. das getan haben, was sie aus ihrer Sicht halt so tun. Das Erschreckende, wahlweise Erstaunliche: Selbst nach mehrmonatiger Analyse eines Expertenteams gab es keine schlüssige und nachvollziehbare Erklärung für das, was passiert war. Chaos in der Chaosforschung. Wie es bei unseren Kunden aussieht ist schwer zu sagen. In den meisten Fällen sicherlich noch grüne Wiese, um es positiv zu formulieren. Bei *um haben wir dieses Jahr begonnen, für uns wesentliche Eckpunkte einer selbst auferlegten Datenethik zu beschreiben und in den Teams zu verinnerlichen. Der Start ist gemacht. Die Entwicklung, Ausformulierung und das dann sicherlich folgende Evangelisieren in Richtung unserer Kunden und Märkte steht groß auf unserer Agenda 2017.

In Ihrem Vortrag sprechen Sie von dem Einsatz von Big Data für soziale, gemeinnützige Zwecke. Können Sie ein paar Beispiele nennen, wie das aussehen kann?

Seit einigen Jahren gibt es eine internationale „ Data for Good-Bewegung“, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Wissen im Umgang mit Daten und die Daten an sich für soziale und gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Neben international bekannten Organisationen wie DataKind oder Bayes Impact gibt es auch in Deutschland erste Initiativen, zum Beispiel Open Data oder Data Science for Social Good in Berlin, von unseren Data Science Teams und mir persönlich unterstützt. Ziel dieser Aktivitäten und Initiativen ist, Zeit und Kompetenz zur Verfügung stellen, etwa in so genannten Data Dives, die regelmäßig stattfinden. Im Gegensatz zu Unternehmen und Organisationen aus Wirtschaft und Politik fehlt es sozialen und gemeinnützigen Organisationen häufig an Vielem, um aus eigener Kraft, Erkenntnisse und Mehrwerte aus Daten zu generieren. Ein „auf Augenhöhe“ ist im Zeitalter von Daten und Datenkompetenz somit kaum noch gegeben. Aber auch in anderer Form wird hier ein wichtiger Gegenpol besetzt: Daten und Algorithmen können auch Gutes tun, im Sinne der Gesellschaft eingesetzt werden und positiv wirken. Wo Alphamännchen wie Elon Musk den Untergang der Menschheit prophezeien, wenn es um die weitere Entwicklung der Maschinen und Algorithmen geht, eine einmal entwickelte „General Artificial Intelligence“, die nicht mehr zu kontrollieren oder zu stoppen sein wird, stehe ich auf der Seite derer, die das harmonische und ergänzende Zusammenspiel von menschlicher und künstlicher Intelligenz erwarten und daran mitentwickeln. Kollaboration statt Konfrontation.

Welches Ergebnis, dass Sie aus Daten gewonnen haben, hat sie am meisten überrascht? 

Das ist die Standardfrage, die mir immer wieder gestellt wird. Sie bleibt schwer zu beantworten. Mich überrascht es mich jedes Mal aufs Neue, wenn wir mit Hilfe von Algorithmen und Daten Lösungen kreieren, die wir bis vor einigen Jahren noch als unmöglich klassifiziert hätten. Und das in einer Güte, die vor kurzem selbst in der Wissenschaft noch als klarer Benchmark gegolten hätte. Im Vorfeld der EM 2012 war ich überrascht, dass ich mit Hilfe von Twitter und nur 50 Zeilen Code den deutschen EM-Kader mit hoher Genauigkeit vorhersagen konnte. Im letzten Jahr war ich beeindruckt, wie wir für einen unserer Industriekunden in Echtzeit und beeindruckender Qualität vollautomatisiert Bauteile auf Produktionsbildern identifizieren konnten. Das ging mit Hilfe artifizieller Bilderzeugung, Googles Bildarchiven und vortrainierten Deep Neural Nets sowie einer innovativen Applikations- und Systemarchitektur. Last but not least AlphaGo, die Maschine, die den Menschen erstmalig in „Go“ geschlagen hat. Das Spiel ist hochkomplex, ein Programm wäre regelbasiert auf lange Sicht nicht ebenbürtig gewesen. Aber genau das ist heute nicht mehr nötig. Statt das Programmieren von Regeln und Routinen steht heute das Trainieren von Algorithmen im Vordergrund, und das mehr und mehr selbstlernend auf Basis vorhandener Daten und bekannter Phänomene. Künstliche Intelligenz wird uns mehr und mehr überraschen, aller Wahrscheinlichkeit nach in immer kürzeren exponentiellen Zyklen. Es ist also Zeit, sich damit auseinander zu setzen, zu lernen und die eigene Digitale Entwicklung zu beginnen.

Herr Bollhoefer, vielen Dank für das Gespräch!

Liebe LeserInnen, wenn Sie Lust bekommen haben, tiefer in das Thema „Data Thinking“ einzusteigen, laden Sie das *um-Whitepaper zum Thema Data Thinking hier herunter. Dieser Beitrag auf NEW-D wurde von *um bezahlt. The unbelievable Machine Company GmbH (*um) ist ein unabhängiger Full-Service-Dienstleister für Big Data und Cloud Services. 2008 gegründet, beschäftigt das Unternehmen an den Standorten in Berlin und Wien heute über 120 Mitarbeiter. Als Experten mit Hirn, Hand und Herz entwickelt *um Lösungen für die individuellen unternehmerischen Herausforderungen der Kunden. „Von der Idee bis zum Kabel“ deckt *um dabei die gesamte Bandbreite ab: Beratung, Konzeption, Realisierung und Betrieb sämtlicher digitaler Vorhaben unserer Zeit. Für seine Leistungen und das einzigartige Portfolio wurde *um bereits mehrfach ausgezeichnet (Gartner „Cool Vendor“, Experton „Big Data Leader“). Zu den Kunden zählen u.a. die Metro Group, ProSiebenSat.1, Parship, Porsche und die Deutsche Post. www.unbelievable-machine.com

Fotos: *um.

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