Nachdem meine Eltern in Bremen umgezogen sind, suchten wir uns eine neue Buchhandlung. Etwas ungünstig gelegen, direkt an einer vierspurigen Straße vor einer Unterführung fanden wir die Buchhändlerin unseres Vertrauens: Frau Sattler. Schon nach den ersten Besuchen war ich positiv überrascht, dass ich sofort mit meinem Namen begrüßt wurde und die Empfehlungen für Weihnachtsgeschenke meistens den richtigen Nerv trafen.

Der Buchmarkt steht nicht im Mittelpunkt der Digitalisierungsdebatte. Doch die gerade beschlossene Buchpreisbindung auch für E-Books zeigt, dass sich etwas tut. Wie lesen wir heute? Wozu braucht man noch Buchhandlungen? Was ist das Besondere am Tolino-Konzept? Was können Buchhandlungen besser als Amazon? An einem regenreichen Sonntagnachmittag treffe ich mich mit Frau Sattler in ihrer Buchhandlung zum Gespräch bei Tee und Kuchen und der Lust, das Buchgeschäft von heute besser zu verstehen.

Frau Sattler, wie lange sind Sie schon Buchhändlerin?

Meinen Laden habe ich seit 19 Jahren. Hier war vorher ein Frisörladen. Vorher habe ich in anderen Buchhandlungen gearbeitet.

Früher habe ich selber in einem großen CD-Geschäft gearbeitet. Um die Jahrtausendwende herum gab es einen großen Einbruch. Mit MP3 und dem populär werdenden WWW sanken auf einmal die Umsätze, der Markt veränderte sich radikal. Haben Sie solche Umbrüche auch erlebt?

Das hat sich eigentlich von Anfang an immer wieder verändert. 1996 gab es einen Knick im Buchhandel. Bis dahin gingen die Umsätze immer hoch, auf einmal gingen sie runter. Zu der Zeit kamen auch die großen Ketten wie Thalia nach Bremen, Amazon wurde immer mächtiger.

Am Anfang haben viele Buchhändler Amazon unterschätzt. „Was hat das mit mir zu tun?“, „Was habe ich denn mit dem Internet zu schaffen?“, das waren die Sätze, die man gehört hat. Seitdem ist das keine schleichende Veränderung mehr, sondern eine ganz massive. Amazon hat mit Büchern angefangen, ist aber längst etwas Anderes. Für mich ist Amazon auch kein Buchhändler. Amazon ist ein Marktplatz, der seine Sache ja auch richtig gut macht. Zu Beginn haben die sich eine Buchhandelssoftware eingekauft und komplett kundenorientiert gearbeitet. Bis in die letzte Konsequenz. Viele Kollegen dachten, nur ich habe das Wissen und die Macht über Bücher. Wenn sie früher etwas recherchieren mussten, hatten die Buchhändler die Kataloge. Das hat sich extrem verändert. Die Kunden kommen heute gut informiert in den Laden und wissen, was sie wollen, früher waren wir die einzigen, die Empfehlungen machen konnten. Die Beratungsseite hat sich also auch komplett gewandelt. Diesen Schritt wollten viele nicht sehen.

Wenn ich mich hier umsehe, sehe ich ein kleines, aber gut kuratiertes Sortiment, an die 1000 Titel. Wie wählt man aus, was man in den Laden stellt? Kommen die Leute aus der ganzen Stadt zu Ihnen oder sind Sie eine Stadtteil-Buchhandlung?

Von Anfang an war klar, in so einem kleinen Laden können Sie nicht alles zeigen. Das ist natürlich auch ein Vorteil, die Entscheidung ist einfacher, wenn ich vor drei Titeln stehe zum gleichen Thema als vor 30 Titeln. Mein Laden ist eine Stadtteil-Buchhandlung, wo ich meine Kunden persönlich kenne. Wenn ich neue Titel sehe, denke ich gleich, ach klasse, das muss ich gleich Herrn oder Frau Sowieso sagen. Die Interessen meiner Kunden habe ich im Kopf. Aber auch die Art der Präsentation hat sich gewandelt. Viele haben die Bücher Rücken am Rücken im Regal stehen, ich zeige lieber mehr Cover von vorne.

Buchregal

Ist die Auswahl Intuition oder machen Sie auch eine Datenauswertung am Ende des Monats?

In meiner Software kann ich die Bestseller direkt rausziehen. Für den Einkauf gibt es verschiedene Prinzipien. Sie können direkt beim Verlag einkaufen, das macht man einmal im Herbst und einmal im Frühjahr. Das mache ich aber seit ein paar Jahren nicht mehr. Ich bin einer Einkaufsgenossenschaft, der eBuch, die ein eigenes Zentrallager haben beim Großhändler Lingenbrink (Libri). Die liefern mir wöchentlich aus den Daten von über 700 Sortimentsbuchhandlungen die Bestsellerlisten. Wenn ich in diesen Daten einen Trend sehe, den ich nicht noch gar nicht auf dem Schirm hatte, probiere ich das einfach mal. Diese Ausmalbücher z.B. sind seit einem halben Jahr der Renner. Deswegen finde ich diese Genossenschaften gut, denn so habe ich kein totes Kapital im Laden, weil ich mich vor einem halben Jahr entschieden habe, etwas Anderes einzukaufen. Unsere Verkaufszahlen-Daten verkauft die Genossenschaft weiter an die GfK. Zur Zeit allerdings nicht, da es einen Streit um die Weiterverwendung dieser Daten gibt.

Gibt es Titel, wo man merkt, dafür hat der Verlag besonders gutes Marketing gemacht, die stelle ich einfach rein und die verkaufen sich dann von alleine?

Bei mir eigentlich weniger, wenn ein Verlag gute PR für ein Buch macht, heißt das nicht automatisch, dass der auch bei mir gut läuft. Das mag in Großbuchhandlungen anders sein. Es gibt auch die andere Richtung, also dass Verlage bestimmte Titel unterschätzen, aber die Buchhändler davon so begeistert sind, dass sie auf einmal einen Bestseller daraus machen. Buchhandel ist ein lokales Geschäft. Kenne ich wirklich meine Kunden und ihre Interessen? Das sind für mich die wichtigen Fragen.

Eigentlich müsste es Ihnen doch gerade richtig gutgehen, wenn ich mir Konzepte wie Kochhaus angucke, alles was mit Komplexitätsreduzierung, mit Einfachheit zu tun hat, das boomt doch gerade. Erlebt man durch die Überforderung von Verfügbarkeit einen Retro-Trend in den letzten vier, fünf Jahren?

Absolut. Das ist auch immer Thema auf den Weiterbildungen die ich auf dem Libri Campus mache. Die laden hochkarätige Leute ein, z.B. aus der Hirnforschung. Das hilft mir den eigenen Tunnelblick zu verlassen und einmal über den Tellerrand hinaus zu gucken. In Hamburg gibt es z.B. die Buchhandlung stories!, die Bücher sind dort in Rahmen präsentiert, wie in einer Galerie, das ist ganz toll gemacht und konsequent umgesetzt.

Sattler_Laden

Hand aufs Herz: Steigt ihr Umsatz?

Ich hatte hier drei Jahre eine Baustelle vor der Tür, das war eine echte Belastung. 2013 war kein gutes Jahr, 2014 war gut, 2015 war richtig gut. Ich habe gegen den Trend im Buchhandel sogar ein Plus gemacht. Das sind dann so Momente, wo man denkt, dass auf man auf der richtigen Spur ist. Man muss offen sein für neue Dinge, es gibt immer noch Kollegen, die sich z.B. gegen E-Reader sträuben. Aber wenn meine Kunden die haben wollen, dann verkaufe ich die natürlich auch. Ich bin entsetzt, wie wenig Wissen da bei den Kollegen teilweise vorhanden ist. Das Thema ist ja nicht neu. Meinen ersten E-Book-Reader habe ich 2008/2009 verkauft. In der Tolino-Allianz hat sich auch Libri mit eingekauft, das heißt der unabhängige Buchhandel profitiert von diesem Konzept.

Es gibt ja Bestrebungen lokal verfügbare Sortimente online anzeigen zu lassen, wie z.B. Genialokal.de, ein Service der Click und Collect ermöglicht. Sind Sie da auch angeschlossen? Wie sehen Ihre E-Commerce-Aktivitäten aus?

Bei genialokal.de steht auch die eBuch Genossenschaft mit dahinter. Den Vertrag dazu habe ich gerade unterzeichnet. Ansonsten mache ich bisher nur 2,5% bis 3% meines gesamten Umsatzes digital. Davon sind ca. 30% E-Books, da mein Webshop auf dem Tolino vorinstalliert ist, 30% sind Versand über meine Website und 30% werden abgeholt. Das System des Tolinos ist so ausgelegt, dass alle Seiten davon profitieren, Verlage, Buchhändler und Autoren. Man muss dort nicht in meinem Shop kaufen, aber es kommt oft vor, dass Kunden im Laden nach einer Empfehlung für ein E-Book fragen und dann zu Hause im Webshop bei mir kaufen. An jedem Buch was in meinem Webshop auf dem Tolino gekauft wird, verdiene ich mit. Dass ich an meiner Scheibe die Tolino-Werbung stehen habe, ist meinen Kollegen schon aufgefallen, manche sagen: „Wie kannst du nur, wir wollen doch eine echte Buchhandlung bleiben.“ Ich sehe das anders, wenn Kunden eine Frage zu einem E-Book haben, dann will ich ihr Ansprechpartner sein. Ob die Kunden elektronisch lesen wollen oder ein gedrucktes Buch, ist mir persönlich egal.

Vor einiger Zeit begegneten mir in Hamburg Plakate der Kampagne „Vorsicht Buch“ vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Da standen Sachen wie „Wir legen Bücher ans Herz und nicht bloß in den Versandkarton“. Glauben Sie, dass das der richtige Weg ist, um für Buchhandlungen zu werben indem man Leuten vorwirft bei Amazon zu kaufen?

Dass der Börsenverein Marketing für das Buch und die Buchhändler macht, finde ich klasse, aber mir hat dieses „Vorsicht Buch“ von Anfang an nicht gefallen. Das klingt ja wie eine Gefahr und Ironie sehe ich da auch nicht. Natürlich ist es mir lieber, wenn die Kunden nur bei mir kaufen, aber ich habe kein Problem damit, wenn sie auch mal bei Amazon bestellen. Wir werden als Mitglieder über sowas aber auch nur informiert, mitentscheiden tun wir bei solchen Kampagnen nicht.

Wie sieht es mit jungen Käufern aus? Man sagt, dass Jugendliche gerne lesen, auch Gedrucktes.

Da ist wirklich spannend. Jemand der 20 oder 25 oder 30 ist, kauft ganz anders ein, als Ältere. Die sind mit anderen Medien aufgewachsen und haben ein völlig anderes Einkaufsverhalten. Ganz junge Kunden habe ich leider wenig. Die wohnen hier auch nicht um die Ecke, was ich eher habe sind Studenten. Mein Hauptpublikum ist 40 plus. Die sind mit mir alt geworden. Die ganz Jungen sind eine echte Herausforderung.

Ist es deshalb nicht umso wichtiger, dass man junge Leute auf das „Konzept Buchhandlung“ aufmerksam macht?

Ja, das steht bei mir auf To-Do-Liste. Ich habe auch mal angefangen mit Facebook , habe es aber wieder aus den Augen verloren. Dieses Jahr will ich wieder mehr machen.

Vielleicht sollten Sie die erste Buchhandlung werden, wo man mit Snapcash über Snapchat Bücher kaufen kann. Nicht nur die Vertriebswege ändern sich, sondern auch die Bezahlmethoden. Gibt es da schon Initiativen in Richtung NFC oder mobiles Bezahlen?

Nein, das macht jeder selber. Bei mir gibt es Girocard, EC und Cash. Kreditkarte ist wegen der hohen Gebühren für mich nicht interessant. Ein Buch für 9,90 Euro als Geschenk verpackt mit Tüte, wenn das mit Kreditkarte bezahlt wird, kann ich es auch verschenken.

Amazon braucht ja mittlerweile für Bücher manchmal mehrere Tage, wenn ich es bei Ihnen bis 17.45 Uhr bestelle, ist es am nächsten Tag da. Wie funktioniert das?

Libri hat 600.000 Titel im vollautomatischen Lager in Bad Hersfeld liegen und dann gibt es noch Koch, Neff & Volckmar, die haben ihr Zentrallager in Erfurt und Stuttgart. Ich kann bis viertel vor sechs dort bestellen, die Bücher stehen um halb elf bei denen an der Rampe und werden auf LKW verladen. Bei Oldenburg gibt es ein Verteilzentrum, dort wird umgeladen auf die kleinen Wagen und um sechs, halb sieben in der Früh kommen die Bestellungen bei mir in Bremen an. Der Bücherwagendienst ist eine Tochtergesellschaft von Libri, die arbeiten schon seit Jahrzehnten mit den gleichen Fahrern, die dort auch zu guten Bedingungen angestellt sind, die haben eine ganz geringe Fluktuation. Wenn ich mal ganz früh da bin, trifft man sich auch mal.

Wenn Sie lesen das Amazon in den USA 400 Buchhandlungen eröffnen will, was geht Ihnen da durch den Kopf?

In ein paar Jahren gibt es die bei uns in den großen Städten auch.

Es gibt Indizien die besagen, dass algorithmische Filterung von Nachrichten zur Radikalisierung führt. In den USA sagen Studenten, dass es in Ordnung sei, bestimmte Meinungen zu verbieten, an Hörsälen hängen Schilder wie „Die Inhalte dieser Vorlesung könnten Sie empören“. Wie können Sie als kleine Buchhandlung die Lesekultur fördern, die vielleicht geeignet ist, wieder mehr aufeinander zuzugehen, statt aufeinander einzudreschen, andere Meinungen auszuhalten. Auch im Hinblick auf die vielen Neuankömmlinge in unserem Land.

Wir müssen die Lust am Lesen wecken. Wenn Sie ein Kind dazu kriegen, dass es einmal völlig berauscht ist von einem Buch, dieses Gefühl bleibt hängen. Und irgendwann als Jugendlicher oder Erwachsener kommt der Punkt, wo man das nochmal erleben möchte. Der Held meiner Kindheit war Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Dieses Gefühl zu vermitteln, dass muss man schaffen und da sind viele Buchhandlungen sehr aktiv mit kreativen Leuten und kreativen Ideen. Es ist unglaublich, wie viele Veranstaltungen oder Wettbewerbe es zu diesen Themen gibt. Für Flüchtlinge gibt es z.B. die Deutschlernbox, gefüllt mit Lernmaterialien von Pons und den Klett-Verlagen. Diese geht bei uns im Moment wandern an ehrenamtliche Helfer in Bremen, die in den Übergangsheimen damit arbeiten. Es gibt eine vom Börsenverein organisierte Spendenaktion gesponsert von verschiedenen Verlagen, Leseecken in Flüchtlingsheimen zu installieren. Das Problem ist, dass man immer jemanden vor Ort haben muss, der den Hut auf hat. Die Heime sind teilweise so chaotisch organisiert, da bringen sie Materialien hin und beim nächsten Mal ist nichts mehr davon da oder niemand kann sagen, wo die Sachen abgeblieben sind. Wir haben z. B. einen Spendenaufruf an unsere Kunden organisiert, dass sie Deutsch-Lernbücher an das Übergangswohnheim in unserem Stadtviertel spenden. Wir kennen dort die ehrenamtlich arbeitenden Deutschlehrerinnen und Lehrer und wissen, dass die Spenden bei den Schülern auch ankommen.

Sattler_Stadtmusikanten

Blicken wir zum Schluss in die Zukunft. Was haben Sie vor? Die Amazon-Buchläden sollen ja die Rezensionen aus dem Web im Regal mit anzeigen. Wäre sowas nicht auch auf lokaler Ebene interessant? Ein Wohnumfeld ist ja oft ähnlich strukturiert und hat auch gemeinsame Interessen, ich denke da an „Kunden aus der Elsasser Straße kauften auch…“…

Empfehlungen von Kunden für Kunden gibt es im Buchhandel schon. Das strickt jeder für sich selber, ist aber eine super Idee. Was wir hier intern schon machen, sind Bewertungskarten, die wir in die Bücher legen als Feedbacktool. Da ist auf jeden Fall noch Musik drin. Lokale Bestsellerlisten sind auch so ein Thema. Niemand würde darauf kommen, dass bei uns auf Platz eins ein Doppelkopf-Lehrbuch ist.

Mein Bauchgefühl – Zahlen aus dem Web vom Praktiker beurteilt

Frau Sattler, vielen Dank für das Gespräch!

NEW-D Newsletter